Auch die Beschneidung von Jungen ist Genitalverstümmelung

Gegenwärtig liegt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit einseitig auf dem Problem der Genitalverstümmelung bei Mädchen

Berlin, 7. Mai 2019

Liebe Blog-Leserinnen und liebe Blog-Leser,

das Kölner Landgericht hat 2012 ein aufsehenerregendes Urteil getroffen, in dem es die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen für unzulässig erklärt hat. Damit bezog es eindeutig Position im Konflikt zwischen dem Recht der Eltern auf freie Religionsausübung und dem Recht des Jungen auf körperliche Unversehrtheit. Nachdem die Reaktionen zum Teil sehr heftig ausfielen, verabschiedete der Deutsche Bundestag nur sieben Monate später in einem Schnellverfahren, in dem Betroffene nicht angehört und Ärzteverbände überhört wurden, den §1631d BGB, der die Entscheidung über die Vorhautbeschneidung eines Jungen aus jeglichem Grund der Entscheidung der Eltern überlässt, während Genitalbeschneidungen an Mädchen nur wenige Monate später per Gesetz verboten wurden. Dies ist eine Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen vor dem deutschen Gesetz, die dem Gleichheitsgebot unseres Grundgesetz widerspricht.

Es ist verständlich, dass die Frage der Beschneidung von Jungen kontrovers diskutiert wird. Auch ich bin mir bewusst, dass es von grundlegender Bedeutung im Judentum ist, dass die Jungen am achten Tag nach ihrer Geburt beschnitten werden (Brit Mila), weil damit der Bund mit Gott geschlossen wird. Auch viele Muslime berufen sich bei der Beschneidung von Jungen, die in der Regel viel später als bei den Juden vorgenommen wird, auf den Religionsstifter Mohammed und den Urvater Abraham. Ich sehe hier allerdings so gravierende Probleme, dass ich die Diskussion weiterführen möchte.

Wenn wir von Genitalverstümmelung sprechen, sprechen wir in der Regel über die Beschneidung von Mädchen – eine grausame Handlung, die zu Recht verboten ist und bekämpft und geahndet werden muss. Aber die Beschneidung von Jungen ist in meinen Augen nicht viel weniger schlimm – auch hier kann man von Genitalverstümmelung sprechen, die den Betroffenen für sein ganzes Leben zeichnet und körperlich wie geistig erheblich beeinträchtigen kann. Deshalb möchte ich dieses Thema nicht einfach unter den Tisch fallen lassen.

Entscheidend bei der Beschneidung von Jungen sind zwei Aspekte: Erstens handelt es sich um einen medizinisch nicht erforderlichen Eingriff, von dem üblicherweise abgeraten wird. Zweitens können die Jungen wegen ihres Alters keine verantwortliche Zustimmung erteilen, was doch die Voraussetzung für jeden nicht notwendigen Eingriff sein sollte.

Jeder medizinische Eingriff ist ein Risiko. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie rät deshalb von einem Eingriff bei Säuglingen ab und empfiehlt bei älteren Kindern konservative Behandlungsmethoden, und zwar nur in den wenigen Fällen, bei denen es auch wirklich nötig ist. Die Komplikationsrate liegt nämlich auch bei guten Operationsbedingungen noch bei 5,1 Prozent. Dass die Ärzteschaft bei der Diagnose „Phimose“ (Vorhautverengung) die Zahl der operativen Eingriffe seit mehreren Jahren immer weiter reduziert hat, ist ein Trend, den ich sehr begrüße.

Das Argument, dass die Jungenbeschneidung als unverzichtbarer Bestandteil des Jüdischseins von der großen Mehrzahl der Juden gesehen wird, nehme ich ernst. Diese Praxis existiert seit Jahrtausenden, wurde nie unterbrochen und enthält damit eine so tiefe Wahrheit, die ich schätze. Ich sehe aber auch, dass es innerhalb des Judentums eine Strömung gibt, die die Brit Mila auf den Zeitpunkt der Volljährigkeit oder wenigstens der Religionsmündigkeit des Jungen verschieben möchte, damit der eine eigene Entscheidung treffen kann. Im Islam ist die Lage nach meiner Kenntnis einfacher: Es gibt hier kein ausdrückliches, starkes Beschneidungsgebot.

Im Moment liegt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit einseitig auf dem Problem der Genitalverstümmelung bei Mädchen. Das Thema ist und bleibt wichtig. Aber daneben bleibt das Problem der Genitalverstümmelung bei Jungen – und darum handelt es sich in meinen Augen, wenn ihnen aus religiösen Gründen die Vorhaut entfernt wird. Ich möchte, dass wir auch darüber reden.

Herzlichst

Ihre Sylvia Pantel

Links:

Leitlinie “Phimose und Paraphimose”, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für  Kinderchirurgie e.V. (DGKCH) https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/006-052.html

Artikel „Phimose-Leitlinie stellt Gesetz zur Jungenbeschneidung infrage“ aus der Zeitschrift „Hebammenforum“ https://drive.google.com/file/d/1Z5jHm30ud620uz7CDWyqqPR4WqFZr2hY/view

Artikel „Frauenunion NRW fordert Aufklärungskampagne zu Phimose und verpflichtende Kinder-Untersuchung zur Unversehrtheit weiblicher Genitalien“ https://intaktiv.de/frauenunion-nrw-fordert-aufklaerungskampagne-zu-phimose-und-verpflichtende-kinder-untersuchung-zur-unversehrtheit-weiblicher-genitalien/