„Kinderrechte“ im Grundgesetz? Die Änderung sollte unterbleiben

Die Regierungskoalition hat sich auf eine Formulierung für “Kinderrechte” im Grundgesetz geeinigt. Die Frage lautet nun: Werden dadurch Elternrechte zugunsten des Staates eingeschränkt? Oder handelt es sich um eine eher plakative Formulierung? Dann allerdings wären sie überflüssig.

Ein Gastbeitrag von Sylvia Pantel bei Tichys Einblick vom 21. Januar 2021

Eine Verschiebung der Erziehungs- und Betreuungsrechte weg von den Eltern und hin zum Staat würde einen Trend manifestieren, der im Extremfall zu staatlicher Einmischung führen könnte und bei dem das Kindeswohl keineswegs immer als Leitprinzip angewendet würde. Dabei ist ein Eingreifen staatlicher Behörden bereits nach heutiger Gesetzeslage bei einer ernsthaften Gefährdung des Kindeswohls möglich und insoweit gesichert. 

Jenseits der familienrechtlichen Dimension des Vorhabens, würde eine solche Grundgesetzänderung aber auch die Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat relativieren, also ganz originäre und elementare, im Grundgesetz besonders betonte und geschützte Freiheitsrechte. Auf gut deutsch: Unsere Verfassung bestimmt, dass der Staat den Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder grundsätzlich nicht „reinzureden“ hat.

Bundesverfassungsgericht: Grundrechte der Kinder ergeben sich aus dem Grundgesetz

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach festgehalten, dass ein Kind nach geltendem Verfassungsrecht „ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit“ ist (BVerfGE 24, 119 [144]). An diesem Grundsatz hat das Gericht bis heute konsequent festgehalten; so hat das Karlsruher Gericht im Jahre 2008 erneut hervorgehoben, dass ein Kind eine „eigene Würde und eigene Rechte“ hat und dass es „Rechtssubjekt und Grundrechtsträger“ ist (BVerfGE 121, 69 [92 f.]).

Deshalb haben die Vertreter der CDU im Koalitionsausschuss in einem Schreiben zu der jetzigen Einigung festgehalten: „Kinder sind zum einen schon nach geltendem Recht Grundrechtsträger. Sie sind über Artikel 1 des Grundgesetzes – Unantastbarkeit der Menschenwürde – schon jetzt geschützt und haben an allen Grundrechten schon jetzt Anteil, auch wenn sie je nach Alter noch nicht alle Grundrechte selbständig ausüben können. Sie haben zum anderen ebenfalls schon jetzt über Artikel 103 Absatz 1 GG Anspruch auf rechtliches Gehör.“

Bei der angestrebten Änderung des Grundgesetzes geht es um den Artikel 6 GG. Bisher lautet der Artikel 6 Absatz 2 GG: 

„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“

Dem soll nun hinzugefügt werden: 

„Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt [insgesamt] unberührt.“

Es wird also lediglich auf die Grundrechte von Kindern verwiesen und nochmals gesagt, dass Eltern das Erstverantwortungsrecht für ihre Kinder haben.

Das Grundgesetz wird also um zwei bereits bestehende Formulierungen ergänzt. Man könnte statt einer Veränderung des Artikels 6 GG aber auch Änderungen und Ergänzungen an Artikel 1 Absatz 1GG vornehmen. In Artikel 1 GG heißt es:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Dieser Artikel könnte wie folgt ergänzt werden:
„Menschen haben eine unantastbare Würde. Alle staatliche Gewalt ist verpflichtet zur Achtung und zum Schutz dieser Würde.“
Eine solche doppelte Betonung würde aber auch nichts an den schon bisher geltenden Grundrechten ändern und diese auch nicht verstärken.

Ein Fuß in der Tür des Grundgesetzes, um Elternrechte zu beschneiden

Aber tatsächlich geht es um etwas völlig anderes. Sieht man sich den eigentlichen Vorschlag der SPD an, treten andere Absichten zu Tage, als die vermeintlich bloß wohlwollende Stärkung von Kindern und ihren Rechten; so heißt es im Text-Vorschlag der SPD:

„Art. 6 Abs. 1a (neu): Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“

Die Formulierungen „eigenverantwortliche Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft“ und „bei allem staatlichen Handeln“ erwecken nicht den Eindruck, dass es den Autoren hier zentral um die Eltern oder die Familien geht. Diese werden in dem SPD-Textvorschlag auch mit keinem Wort erwähnt. Vielmehr soll dem Staat ein verstärkter Zugriff auf Kinder ermöglicht und dieses Ansinnen befördert werden. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, wenn es aus dem SPD-geführten Familienministerium heißt, der jetzige Formulierungsvorschlag sei nur eine Diskussionsgrundlage, die man bis zum Entwurf und der anschließenden Lesung noch mit den richtigen Inhalten füllen könne. Der jetzt aufgetischte Vorschlag, der zunächst harmlos daherkommt, soll offensichtlich als Einfallstor genutzt werden, um doch noch durch die Hintertür die staatliche „Lufthoheit über die Kinderbetten“ (ein alle weitergehenden Absichten enttarnendes Unwort des damaligen SPD-Generalsekretärs und heutigen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz) zu erreichen. 

Denn im Kern ist die SPD leider immer noch von sozialistischen Ideologien und Utopien inspiriert. Dort herrscht immer noch die Ansicht vor, dass der Staat und seine Institutionen bessere Erzieher seien als die Familien und die leiblichen Eltern. Dieses Ur-Misstrauen gegenüber individuellen Personen und den Familien als den Kerngemeinschaften der Gesellschaft fußt darauf, dass überzeugte Sozialisten der Freiheit und Verantwortungsbereitschaft von Individuen und Familien als den Grundbausteinen der staatlichen Gemeinschaft ganz grundsätzlich weniger Orientierung an politischen Vorgaben im sozialistischen Sinne zutrauen, als staatlich gelenkten und das elterliche Erziehungsrecht bevormundenden Institutionen. Die schon vor Jahrzehnten gescheiterte sozialistische Ideologie der Kollektiv-Erziehung, mit der Weggabe von Kindern ab der Geburt in staatliche Obhut und Betreuung, lässt leider immer noch grüßen.

Bei der geplanten Grundgesetzänderung überwiegen daher die potentiellen Risiken, da das grundgesetzlich gewährleistete Elternrecht zugunsten von Interventionsmöglichkeiten des Staates verschoben werden kann und offenbar auch soll. Dazu erklärte der Verfassungsrechtler Prof. Gregor Kirchhof bereits 2018: „Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind ist zum Wohle des Kindes in besonderer Weise geschützt. Das Dreieck ist spitzwinklig, weil Eltern und Kind in einem Näheverhältnis stehen, über das die öffentliche Hand – weiter entfernt – wacht. Das System würde verfälscht, wenn ein rechtwinkliges Dreieck entstünde – Eltern und Kinder würden in eine Distanz gebracht.“ (NJW 37/2018, S. 2690 ff).

Professor Kirchhof schätzt die derzeit gewählte Formulierung zwar so ein, dass diese Gefahr noch nicht aktuell besteht, doch ließen die bereits diskutierten Änderungswünsche nichts Gutes erahnen. 

Verfassungsänderung führt zu veränderter Rechtsprechung

Sollte eine Verfassungsänderung allein mit der Absicht erfolgen, die bestehende Rechtslage noch einmal ganz ausdrücklich im Verfassungstext festzuschreiben, kann dennoch nicht verlässlich gesichert werden, dass nur diese Absicht auch umgesetzt werden kann. Ein bloßer Symbolcharakter der Änderung müsste sich zumindest deutlich im Text des Grundgesetzes wiederfinden. Der aktuell debattierte Text-Vorschlag „Die Erstverantwortung der Eltern bleibt [insgesamt] unberührt“ versucht dies; ob eine solche Formulierung aber einen verlässlichen Schutz vor grundlegenden Veränderungen der Rechtsprechung zum Elternrecht bietet, muss leider bezweifelt werden. Denn es ist sehr fraglich, ob das Bundesverfassungsgericht trotz einer solchen Formulierung in seiner künftigen Rechtsprechung nicht davon ausgehen wird, dass sich die beabsichtigte Änderung des Grundgesetzes auch auf den materiellen Gehalt des Grundgesetzes auswirkt und dies vom Gesetzgeber auch genauso intendiert war. Dies würde bedeuten, dass sich durch die Änderungen und Doppelungen der Formulierung auch der materiell-rechtliche Gehalt der Verfassung und damit die Rechtsprechung in Bezug auf die Elternrechte letztlich gravierend verändern würde.

Die spezielle Setzung von „Kinderrechten“ durch ihre explizite Einfügung in das Grundgesetz würde daher höchstwahrscheinlich dazu führen, dass das Elternrecht zugunsten des staatlichen Bestimmungsrechts tendenziell zurück gedrängt werden wird. Denn indem das Grundgesetz bislang feststellt, dass das Kindeswohl im Regelfall bei den Eltern in den besten Händen ist, kann das Elternrecht entsprechend der aktuellen Fassung des Grundgesetzes nur bei einer ernsthaften Beeinträchtigung des Kindeswohls zurückgedrängt werden. Insbesondere gestattet Art. 6 GG bisher kein staatliches Tätigwerden, um entgegen dem Elternwillen für eine vermeintlich optimalere Entwicklung des Kindes zu sorgen. Dies kann sich jedoch durch eine Grundgesetzänderung verändern.

Die Einführung von speziellen „Kinderrechten“ im Grundgesetz würde dann die Möglichkeit eröffnen, Entscheidungsbefugnisse, die bisher den Eltern vorbehalten sind, auf den Staat zu verlagern. Eine solche Änderung würde das Bundesverfassungsgericht zu einer Neubewertung der Elternrechte veranlassen können und das Tor dazu aufstoßen. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könnte sich zulasten des Elternrechts ändern. Eine Änderung des Grundgesetzes, auch wenn diese vermeintlich nur mit Symbolcharakter daherkommt, wird also wohl oder übel sehr bald auch die Verfassungsrechtsprechung verändern. Denn ein geändertes Verfassungsrecht zieht folgerichtig eine geänderte Verfassungsrechtsprechung nach sich.

Ich betone deshalb nochmals, dass der Schutz der Rechte der Kinder schon heute eine grundgesetzlich verbürgte Pflichtaufgabe des Staates ist. Doch es kommt darauf an, dass der Staat dieser Aufgabe auch tatsächlich nachkommt und seiner Verantwortung gerecht wird. Besondere „Kinderrechte“ im Grundgesetz können zu einer Erfüllung dieser Aufgabe nichts beitragen, da sie lediglich einen symbolischen Akt darstellen, ohne sich für die Lösung konkreter Probleme im Einzelfall zu eignen.

Die bestehenden Kinderrechte müssen umgesetzt werden

Die tatsächlichen Probleme, die im Bereich der Verwirklichung von Kinderrechten vorhanden sind, betreffen die Ausbildung und Qualifikation von Familienrichterinnen und -richtern und die zum Teil fehlende Anhörung der Kinder bei Gerichtsverfahren. Doch genau diese Thematik gehen wir im Deutschen Bundestag derzeit an.

Im Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder ist eine spezifische Qualifikationsanforderungen an Familienrichterinnen und -richter sowie der für Beschwerden gegen Entscheidungen des Familiengerichts zuständigen Richterinnen und Richter der Oberlandesgerichte vorgesehen. Weiter geht es um Änderungen im Beschwerdeverfahren. Entscheidungen sollen nun stets von einem Kollegialorgan mit einer Dreierbesetzung und nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden. Außerdem geht es um die Einführung konkreter Qualitätsanforderungen für Verfahrensbeistände mit obligatorischer Bestellung. Ferner werden damit die Regelungen über die Kindesanhörung überarbeitet und ergänzt. Schließlich werden durch eine Ergänzung des Jugendgerichtsgesetzes die besonderen Qualifikationsanforderungen an Jugendrichterinnen und Jugendrichter sowie Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte verbindlicher als bisher gefasst. 

Die tatsächliche Durchsetzung der Grundrechte von Kindern, gerade auch vor Gericht, ist also eine Frage der praktischen Umsetzung, die sich aus den bereits vorhandenen Kinderrechten im Grundgesetz ergibt. Hier müssen wir aktiv werden und handeln hier bereits heute. Eine Veränderung des Grundgesetzes trägt nicht zu einer besseren Umsetzung des Schutzes von Kindern bei; im Gegenteil würde diese, wie ausgeführt, nur zu mehr und neuen gravierenden Problemen, gerade auch für Eltern und ihre Kinder, führen.

Hier wäre zu fragen, ob sich Kinder dann mit der Hilfe des Staates von ihren Eltern „scheiden“ lassen dürfen, ihr Geschlecht frei wählen können, sich im Kindesalter tätowieren oder einer Schönheits-OP (mehr Lippen, Brust, Botox) unterziehen dürfen – auch gegen den Willen der Eltern. Sind „Kinderrechte“ also nicht letztlich dazu geeignet, die Elternrechte durch Entscheidungen von staatlichen Stellen „im Namen der Grundrechte der Kinder“ auszuhebeln? Können die genannten schwerwiegenden Entscheidungen, die schon für Erwachsene schwer genug sind, von Kindern überhaupt getroffen werden, und dann auch noch durch staatlichen Entschluss gegen die eigene Familie durchgesetzt werden? Wer dies für utopisch hält, sollte einmal überlegen, was bereits jetzt jungen Menschen über die Gender-Ideologie in unseren Schulen vermittelt wird.

Zusammenfassend: Bewahrung des Grundgesetzes, symbolische Änderung oder Einschränkung von Elternrechten

Erstens sind Kinder bereits Grundrechtsträger und eine Grundgesetzänderung ist daher überflüssig. Deshalb sollte dieses Vorhaben ausdrücklich unterbleiben.

Zweitens würde eine Änderung in Form der Einfügung von expliziten „Kinderrechten“ in das Grundgesetz über die bereits bestehende Formulierung hinaus eine Einschränkung der Elternrechte zugunsten des Staates bedeuten; diesen Einstieg in eine sozialistische Gesellschaftsordnung mit der Bevormundung von Eltern und Familien lehne ich ganz grundsätzlich ab.

Drittens hat der aktuell vorliegende Text-Vorschlag für eine Änderung des Grundgesetzes einen reinen Symbolcharakter, in dem er bereits Bekanntes lediglich ergänzt, was nichts am jetzigen Zustand ändert, da Kinder bereits Grundrechtsträger sind – wie alle Menschen.

Viertens besteht die prinzipielle Gefahr, dass mit einer Grundgesetzänderung, sei sie auch symbolisch und überflüssig, immer eine Änderung der Verfassungsrechtsprechung verbunden ist – in diesem Fall zuungunsten von Elternrechten.

Obwohl eine Änderung unseres Grundgesetzes rechtlich, inhaltlich und sachlich völlig unnötig ist, erwarten die Fraktionsspitzen trotzdem, dass wir als Abgeordnete diesem Vorhaben zustimmen, da der – von uns als Abgeordnete nicht mitverhandelte! – Koalitionsvertrag diese Zusage zugunsten der SPD-Vorstellungen eines weiteren staatlichen Hineinregierens in die Familien und die Erziehung der Eltern dies nun einmal vorsehe. Wie frei sind wir als Abgeordnete aber noch in unseren Entscheidungen, wenn wir einer solchen Grundgesetzänderung zustimmen, obwohl sie inhaltlich nichts ändert und angeblich auch nur symbolischen Charakter haben soll?

Auch deshalb behalte ich es mir vor, mit „Nein“ zu stimmen und bin gespannt auf die weitere Anhörung und Debatte.